Im Süden nichts Neues? Der Konflikt in Gaza droht erneut zu eskalieren

Paix et sécurité

Von Flavia Kleiner und Eric Schneider Nachdem in den vergangenen Wochen das iranische Nuklearprogramm im Zentrum der Aufmerksamkeit Israels und der internationalen Staatengemeinschaft gestanden hatte, bedeutet die Tötung von Hamas-Militärchef Ahmed al-Dschabaris eine plötzliche Wende im Fokus der israelischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Die deutlichen Veränderungen von innenpolitischen Faktoren, insbesondere auf Seiten der Hamas, sowie die neue aussenpolitische Gesamtsituation nach dem Arabischen Frühling machen eines klar: Nur eine umfangreiche Re-Orientierung der involvierten Parteien und das Akzeptieren der veränderten Ausgangslage können eine weitere Eskalation des Konfliktes verhindern.

Während die aktuelle Lage zunächst auf eine Fortsetzung des Gaza-Krieges 2008/9 hindeutet, stellt sich die Situation bei näherer Betrachtung anders dar. Bereits 2005 hatte sich das israelische Militär aus dem Gaza-Streifen komplett zurückgezogen. Nachdem es aber im Jahr 2008 zu einem massiven Beschuss israelischer Gebiete durch die Hamas kam, drang das Militär mit einer gross-angelegten Bodenoffensive in Gaza ein. Das formulierte Ziel des damaligen Gaza-Krieges war die Entwaffnung der Hamas. Mit der gezielten Tötung Ahmed al-Dschabaris‘ durch einen Drohnenangriff der Israelischen Armee am vergangenen Mittwoch reagierte Israel nach eigenen Angaben auf den erneuten, über Monate andauernden Beschuss durch Raketen und Mörser aus Gaza.

Die Eskalation der Situation vor der Tötung Ahmed al-Dschabaris‘ und die Reaktion der Hamas auf diese dürfte auch die grössten Pessimisten im israelischen Verteidigungsdepartement zunächst überrascht haben. Denn der Hamas sollte eigentlich bewusst sein, dass sie einen konventionellen Krieg gegen Israel nicht gewinnen kann.

Der Kampf um die Vorherrschaft

Die Verschärfung des Konflikts durch die Hamas scheint also primär auf innenpolitische Gründe in Gaza zurückzugehen. Der Waffenstillstand mit Israel nach dem ersten Gaza-Krieg hat viele Hardliner abtrünnig werden lassen. Diese haben sich in der Folge radikaleren Gruppen wie beispielsweise dem „Islamischen Dschihad in Palästina“ oder der „Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP)“ zugewandt. Die Vorherrschaft der Hamas als Vorkämpferin der palästinensischen Widerstandsbewegung ist in Gefahr. Insbesondere die steigende Ineffektivität der Hamas hinsichtlich der Einbindung von antagonistischen Gruppierungen gefährdet ihre Legitimität als Vertreterin der palästinensischen Interessen. Nun hat die Hamas der Palästinensischen Autonomiebehörde beim Versuch, als „Beobachterstaat“ von den Vereinten Nationen anerkannt zu werden, bereits zum zweiten Mal den Wind aus den Segeln genommen. Während sich die Hamas im vergangenen Jahr mit dem Gefangenenaustausch des israelischen Soldaten Gilad Shalit profilierte, lenkt dieses Mal die Eskalation in Gaza von den diplomatischen Bemühungen der Fatah in New York ab. Aber auch die wirtschaftliche Lage stagniert, die Arbeitslosigkeit in Gaza ist unvermindert hoch. Auch deshalb wird vermehrt versucht, internationale Unterstützung zu gewinnen. Der Arabische Frühling bedeutete für die Hamas eine Neuorientierung: So versprach der Emir von Katar, Sheikh Hamad bin Khalifa al-Thani, beim ersten Staatsbesuch im Gazastreifen seit der Machtübernahme der Hamas Unterstützungszahlungen von mindestens 250 Millionen Dollar. Es darf bezweifelt werden, dass das Geld nur zu humanitären Zwecken verwendet wird. Der Raketenangriff auf Jerusalem von Freitag machte deutlich, dass das Waffenpotenzial der Hamas grösser ist als bisher angenommen. Nur die iranischen Fajr-5 Raketen haben eine Reichweite von bis zu 75 Kilometern und können damit Tel Aviv und Jerusalem erreichen.

Israels neue Bedrohung

Für Israel ist die Situation im Vergleich zu 2008/9 aber nicht nur aufgrund der erhöhten militärischen Kapazitäten der Hamas komplizierter. Während in den letzten Monaten der Schwerpunkt der israelischen Aussen- und Sicherheitspolitik auf einer Eindämmung der Gefahr durch das mutmassliche militärische Atomprogramm des Iran lag, spielte der Konflikt mit Gaza zuletzt eine untergeordnete Rolle. Die Fronten schienen verhärtet. Die Tatsache, dass zum ersten Mal seit 1991 in Tel Aviv und seit 1970 in Jerusalem die Sirenen schrillten, sowie die unsichere Beziehung seit dem Regierungswechsel in Ägypten, bringen Israel in eine ungewohnte und teilweise unberechenbare Situation. Anders als noch 2008 kann sich Israel dieses Mal nicht auf die stillschweigende Unterstützung Husni Mubaraks verlassen. Die ägyptische Regierung unter Hescham Kandil hat sich bereits zu Beginn der Offensive auf die Seite der Hamas geschlagen und dies mit einem persönlichen Besuch verdeutlicht. Auch die Eiszeit in den Beziehungen Israels zur Türkei und der Besuch des Emirs von Katar in Gaza verstärken das israelische Dilemma. Unter anderem deshalb drängten viele westliche Staaten auf einen raschen Waffenstillstand. Ob aber Ägypten nach der deutlichen Parteinahme für die Hamas noch als neutraler Vermittler fungieren kann wird sich erst weisen müssen.

Flavia Kleiner studiert Zeitgeschichte und Rechtswissenschaften an der Universität Fribourg. Momentan studiert sie an der Hebrew University in Jerusalem. Sie ist Mitglied der foraus-Arbeitsgruppen Völkerrecht und Menschenrechte/humanitäre Politik.

Eric Schneider studiert Internationale Beziehungen in Berlin und Potsdam. Zurzeit befindet er sich zur Vorbereitung seiner Masterarbeit ebenfalls an der Hebrew University, Jerusalem.  

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