Die Neutralität war eine erfolgreiche Episode der Schweizer Geschichte, die nun vorbei sein muss

Die rechtlichen Vorteile der Neutralität sind mit dem Gewaltverbot weggefallen. Die Schweiz muss sich deshalb vom Korsett des Neutralitätsrechts lösen und die neu gewonnene Freiheit nutzen, um eine kollektive, statt einsame Vermittlerrolle in der Welt zu spielen.

Von Julian Stöckli

 

Mit dem Ukrainekrieg kam es in der Schweiz zu einer intensiven Debatte über ihr Verständnis der Neutralität.

Die schweizerische Neutralität hat tiefe, historische Wurzeln und wurde mit dem Wiener Kongress von 1815 erstmals völkerrechtlich anerkannt. Sie hat eine sicherheitspolitische und eine humanitäre Funktion, d.h. eine Schutz- und eine Gestaltungsfunktion. Mit der Schutzfunktion sichert die Neutralität den Frieden und die Unabhängigkeit der Schweiz in dem Sinne, dass die Schweiz in keine Kriege hineingezogen wird; mit der Gestaltungsfunktion kann die Schweiz für die Schwachen des Krieges (vor allem Zivilbevölkerung) Partei ergreifen, da sie für keine Kriegspartei Partei ergriffen hat.

Mit dem Haager Abkommen betreffend die Rechte und Pflichten der neutralen Mächte und Personen im Falle eines Landkriegs von 1907 (aber auch zuvor anerkanntermassen) wurde den „neutralen Mächten“, worunter auch die Schweiz fiel, die Unverletzlichkeit ihrer Territorien garantiert (Artikel 1). Dies stellt nicht weniger als ein sektorielles Gewaltverbot dar, von dem die Schweiz profitierte. Es erfüllte die oben beschriebene Schutzfunktion. Die wichtigste, aus dem Abkommen fliessende, neutralitätsrechtliche Pflicht ist sodann, dass man keinem Verteidigungsbündnis beitritt. Ferner dürfen keine Waffen an Kriegsparteien geliefert und das Territorium keiner Kriegspartei zur Verfügung gestellt werden.

Seit der Errichtung der UNO (und bereits vorher durch Artikel 1 des Briand-Kellogg-Pakts von 1928) ist der Krieg dem Ermessen der Staaten entzogen (Artikel 2 Ziffer 4 UNO-Charta). Vorher hatte jeder Staat ein Recht zum Krieg. Nun normiert das universelle Gewaltverbot, dass die territoriale Unversehrtheit und politische Unabhängigkeit der Einzelstaaten nicht durch einen militärischen Angriff tangiert werden darf. Dieses Verbot ist in Völkergewohnheitsrecht erwachsen und damit allgemein anerkannt. Das sektorielle, von der Neutralität abhängige Gewaltverbot wird zum umfassenden. Die Schutzfunktion der Neutralität fällt damit dahin.

Neutralität hat rechtlich keinerlei Vorteile mehr: Das einzige Recht, die Unverletzlichkeit des Territoriums, ist weggefallen. Neutralität wird damit zum Zustand, der nur mehr aus völkerrechtlichen Pflichten besteht, keinem einzigen Recht. Die Schweiz bürgt sich also freiwillig erhebliche Pflichten auf, die ihren Handlungsspielraum einschränken, ohne etwas Fassbares im Gegenzug zu erhalten.

In diesem Sinne ist die Neutralität stark zu hinterfragen. Innenpolitisches Zusammengehörigkeitsgefühl war im Entstehen des Bundesstaats vielleicht von der Neutralität abhängig, heute aber nicht mehr. Die Schweiz hat sich zu einer überzeugten Willensnation entwickelt, die ihre Identität massgeblich durch andere Faktoren wie direkte Demokratie und gemeinsame Geschichte herleitet.

Im Neutralitätsrecht ist es neutralen Staaten verboten, sich horizontal (untereinander) militärisch zu verbünden. Eine solche Absicherung der Neutralität durch Verbindung der Neutralen zu einem Bündnissystem widerspricht dem Neutralitätsrecht. Die Einsamkeit des Neutralen ist die Folge.

Würde die Schweiz ihre Neutralität aufgeben, könnte sie einem solchen (neutralen) Verteidigungsbündnis beitreten bzw. ein solches (mit)gründen. Diese neu gewonnene Freiheit wäre revolutionär: Die Schweiz könnte sich mit anderen völkerrechtsunterstützenden und völkerrechtsabhängigen Staaten (kleinere Staaten, Staaten in geographischen Brennpunkten, ehemals neutrale Staaten) zu einem Legalitätsverbund formieren, der strikt für die Einhaltung des Völkerrechts plädiert. Eine vorsichtige Anlehnung an die NATO (als Organisation, die sich für das Völkerrecht einsetzt) wäre dabei wünschenswert.

Es ist etwas paradox: Die Schweiz muss gezwungenermassen ihre Neutralität aufgeben, damit sie kollektiv neutral sein kann. Denn technisch wäre sie nicht mehr neutral, sondern ihrem Block verpflichtet. Der Block hingegen wäre neutral, d.h. die Schweiz wäre so wieder – über diesen Bogen – neutral.

Die Schweiz würde von der einsamen Vermittlerin zur kollektiven, kooperativen Vermittlerin. Eine Vermittlerin, die einem Verteidigungsbündnis angehört, mithin auch das Schwert und nicht nur die Waage hält, wird eher ernstgenommen. Die oben genannte humanitäre Funktion der Neutralität könnte die Schweiz so viel besser wahrnehmen. Ihr Einfluss in der Welt würde zunehmen. Der Einfluss aller mittleren und kleinen Staaten, dem Rückgrat des Westfälischen Systems, würde zunehmen und damit auch der Einfluss des Völkerrechts.

 

 

Image credits:  Felton Davis on flickr