Ein knappes Jahr nach der Abstimmung eröffnet der Bundesrat die Vernehmlassung zur Umsetzung der Masseneinwanderungs-Initiative und hält den Glauben aufrecht, dass Migrationssteuerung, Prosperität und der Zugang zum europäischen Binnenmarkt miteinander vereinbar sind. Im Wahljahr 2015 scheint der Bundesrat heikle Fragen lieber zu vertagen und seine Verantwortung auszulagern.
Der Bundesrat schickt seinen Gesetzesentwurf in das Vernehmlassungsverfahren – später als ursprünglich angekündigt. Trotzdem präsentiert er gegenüber dem Juni nichts Neues. Innovative Ideen fehlen und vor allem lässt er die grosse Frage ungeklärt, wie er die divergierenden Ziele der getreuen Umsetzung der Masseneinwanderungs-Initiative (MEI) einerseits und der Erhalt des Freizügigkeitsabkommens (FZA) mit der EU andererseits vereinbaren möchte. Der Bundesrat scheint entschlossen, in Brüssel noch zwei Jahre gegen dieselbe Wand zu rennen, gegen die er nun schon ein Jahr lang gerannt ist.
Das politische Geschehen in einer Demokratie folgt einem Konjunkturzyklus, strukturiert durch regelmässig stattfindende Wahlen. Kurz vor Wahlen treffen politische Akteure kaum unpopuläre Entscheidungen, fassen keine heissen Eisen an und verzichten auf grosse Reformprojekte. Parteipolitik übertrumpft Sachpolitik. Dieser Logik folgend, ist der Inhalt des bundesrätlichen Vernehmlassungsentwurfes zur Umsetzung der MEI wenig überraschend: Die Personenfreizügigkeit gilt, die MEI wird mit „flexiblen Kontingenten“ umgesetzt, eine Vertragsänderung mit der EU würde ausgehandelt werden, wenn die EU ebenfalls verhandeln wollte.
Die Qual der Wahlen
Der Bundesrat befindet sich in einem innenpolitischen Dilemma. Hätte er vor den Wahlen 2015 den Glauben an die Quadratur des Kreises begraben, wären die politischen Parteien gezwungen gewesen, sich klar zu positionieren. In der Dynamik des Wahlkampfes hätte dies wohl plakativ und undifferenziert geheissen: Wirtschaftsinteressen versus Volkswillen, Europa versus direkte Demokratie.
Auf Kompromisse und weitsichtige Lösungen könnte in einem solchen Klima kaum gehofft werden. Unter diesen Umständen will und kann es sich der Bundesrat nicht leisten, als erster vor dem Dilemma der MEI-Umsetzung zu kapitulieren. Denn täte er dies, würde er politisch für das Scheitern der Umsetzung verantwortlich gemacht. Besser scheint es ihm also Zeit zu gewinnen, indem er auf eine klare Positionierung verzichtet. Dem Bundesrat gelingt dies, indem er den Glauben an die Vereinbarkeit der Initiative mit dem bilateralen Weg aufrecht hält, sich nicht auf eine Strategie festlegt und mit einer symbolischen Politik seinem Ziel der Zuwanderungsreduktion Glaubwürdigkeit verleiht.
Zu dieser migrationspolitischen Symbolik gehören die Bestrebungen zur besseren Integration von Frauen und älteren Menschen in den Arbeitsmarkt und die Kürzung von Drittstaaten-Kontingenten. Einerseits dienen diese symbolischen Massnahmen nicht als Migrationsbremse, da der Arbeitsmarkt kein Nullsummenspiel darstellt, sondern eine höhere Erwerbstätigkeitsquote wiederum die Nachfrage nach Arbeitskräften ankurbelt. So führt beispielsweise eine verstärkte Arbeitsmarktintegration von Frauen zu einer steigenden Nachfrage nach Betreuungsangeboten für Kinder und ältere Familienangehörige, die mindestens zum Teil mit Zuwanderern abgedeckt werden muss. Und andererseits tragen die Massnahmen nichts zur Lösung des Grundproblems der Vereinbarkeit der MEI mit dem FZA bei. Mit diesen Massnahmen kann der Bundesrat jedoch seinen Willen unterstreichen, den neuen Verfassungsartikel umsetzen zu wollen und sorgt damit für geschlossene Reihen, ohne sich bereits jetzt auf Kontingente oder den Erhalt der Freizügigkeit festlegen zu müssen.
Abwarten hat Konjunktur
Das Vorgehen des Bundesrates orientiert sich am politischen Konjunkturzyklus und eine Lösung der Crux von MEI und FZA, ist vor den Wahlen nicht zu erwarten. Ziel bleibt wohl, sich alle Optionen offen zu halten, und die Chance eines innenpolitischen Kompromisses nach dem 18. Oktober 2015 nicht zu schmälern. Bis dahin wird der Bundesrat weiterhin versuchen, durch Symbolpolitik und konsultativen Gesprächen mit der EU den Schein einer schmerzfreien Lösung zu wahren.
Vom Bundesrat ist keine baldige Lösung zu erwarten. Er ist beauftragt die MEI im Sinne der Verfassung umzusetzen und muss gleichzeitig die Schweiz als verlässliche Vertragspartnerin präsentieren. Aufgrund dieser politischen Zwangslage hofft der Bundesrat nun auf ein konfliktives Vernehmlassungsverfahren, in welchem gesellschaftliche Akteure ihre Verantwortung gegenüber einem ehrlichen innenpolitischen Dialog über Auswege aus dem MEI-Dilemma wahrnehmen. Einen ersten Beitrag dazu hat foraus mit dem Diskussionspapier „Gefangen im Nullsummenspiel – Eine Bewertung der MEI-Umsetzungsvorschläge“ geleistet.