Islam: Eine europäische Tatsache

Migration

Welchen Einfluss haben die Migration und das Leben als Minderheit in einer westlichen Gesellschaft auf den Islam? Wie verändert das Leben in der neuen Heimat die Religiosität? Und welcher Zusammenhang besteht zwischen Verwestlichung und Fundamentalismus? Antworten dazu gibt der französische Politikwissenschaftler und Islam-Experte Olivier Roy. 

 

Dieser Beitrag ist Teil der Blog-Reihe “Islam in der Schweiz”

Etwa ein Drittel aller Muslime lebt heute als Minderheit in einer nicht-muslimischen Gesellschaft, viele davon in Europa und Nordamerika. Dabei geht der grösste Teil der muslimischen Präsenz in Westeuropa auf die Arbeitsmigration der 60er Jahre zurück und ist somit historisch gesehen ein relativ neues Phänomen. Entsprechend fehlt in der neuen Heimat meist ein gemeinsames kulturelles Erbe oder eine umgebende soziale Praxis, aus der sich eine muslimische Identität ableiten lässt. In diesem Sinne stellen die Globalisierung und die damit einhergehende Entkoppelung von Kultur und Religion muslimische Migranten vor die Herausforderung, ihre religiöse Identität neu und nur durch die blosse Referenz zum Islam definieren zu müssen. Da die muslimischen Minderheiten aber in den meisten westlichen Ländern sowohl ethnisch wie auch sprachlich sehr heterogene Gruppen darstellen und gleichzeitig eine zentrale religiöse Autorität fehlt, ist es letztlich jedem Einzelnen überlassen, die muslimische Identität in der neuen Umgebung zu definieren. Entsprechend kommt es zu einer Individualisierung der religiösen Tradition.

Die Individualisierung der religiösen Praxis

Die Antwort auf die Frage, was es heisst ein Muslim zu sein, hängt also zunehmend vom Individuum ab und davon, wie es seine persönliche Beziehung zur Religion erfährt. Diese Individualisierung des Glaubens kann sich gemäss Olivier Roy in zwei Formen der Religiosität ausdrücken: dem liberalen/ethischen Islam und dem sogenannten Neofundamentalismus (Bewegungen, die eine Durchsetzung der Scharia in der Gesellschaft anstreben, dies aber anders als islamistische Gruppen nicht durch den politischen Kampf sondern durch eine gesellschaftliche Reform erreichen wollen.). Die beiden Richtungen sind dabei keine entgegengesetzten Entwicklungen, sondern lediglich unterschiedliche Reaktionen auf den Prozess der kulturellen Entwurzelung und Individualisierung der Religion, die sich v.a. dadurch unterscheiden, wie die religiöse Identität ausformuliert wird: zum einen anhand von Normen (Salafismus) und zum anderen mithilfe von Wertvorstellungen (liberaler, ethischer Islam).

Die Trennung verläuft innerhalb der Kulturen

Mit dieser These widerspricht Olivier Roy der häufigen Annahme, dass die Deterritorialisierung beziehungsweise die Verwestlichung des Islam stets mit einer Reform und Liberalisierung des Glaubens einhergeht. Im Gegenteil meint Roy, dass die Verwestlichung des Islam nicht nur perfekt mit dem fundamentalistischen Diskurs kompatibel ist, sondern ihn darüber hinaus noch begünstigt. Denn gerade weil die muslimische Identität im westlichen Kontext nicht mehr selbstverständlich ist, bietet sich hier erst die Möglichkeit, einen „dekulturalisierten“ Islam zu entwerfen, der über jeglichen Kulturbegriff hinausgeht. Anders formuliert bietet die Globalisierung gewissermassen eine Gelegenheit, das umzusetzen, was Fundamentalisten seit jeher versuchen: Den Islam von jeglicher Kultur und Ethnie zu dissoziieren.

Allerdings stellt der Fundamentalismus nur ein Randsymptom des westlichen Islam dar, welches gemäss Olivier Roy nicht als Indiz für ein „Clash of Civilization“ gedeutet werden darf. Denn die Trennlinien zwischen den Religionen verlaufen in post-migrantischen Gesellschaften nicht zwischen, sondern innerhalb der Kulturen. Daher plädiert Olivier Roy dafür, den Islam als das zu betrachten, was er ist: Eine europäische Tatsache, der mit einer gesellschaftlichen Integration und Anerkennung der Muslime auf einer pluralistischen Basis Rechnung getragen werden muss.
Francesca Albanello ist seit 2014 Mitglied bei foraus und schliesst diesen Sommer ihren Master in Middle Eastern Studies und Politikwissenschaft an der Universität Bern ab.