Unter den Teppich gekehrt: Wie die Europadiskussion aus der Politik verschwunden ist

Europa

Von Maximilian Stern Nach den Nationalratswahlen hatte sich die mediale Schweiz auf das Tranchieren einer saftigen Europadebatte gefreut. Serviert wurde stattdessen nur unverständliches juristisches Potpourri, dafür à discrétion.

Le Temps berichtete am 2. Oktober von einem internen Papier, in welchem die EU-Kommission aufzählte, welche Aspekte des Schweizer Vorschlages zur Lösung der institutionellen Fragen tauglich und welche untauglich seien. Probleme befand das Papier im Bereich der dynamischen Übernahme von acquis, der homogenen Auslegung dieses acquis, der Frage nach einem Streitbeilegungsmechanismus und einer supranationalen Überwachungsbehörde. Nur Bahnhof verstanden?

Im Sommer 2010 labte sich die Schweiz an einer grandiosen Europadebatte. Think-Tanks, Parteien, Professoren redeten sich um Kopf und Kragen. Die Zeitungen liessen Doppelseiten voller Möglichkeiten, von EU-light bis EWR Plus illustrieren, kommentierten Vor- und Nachteile. Zwischen Anführungs- und Schlusszeichen der Nation fand jeder, der Europa halbwegs aussprechen konnte, Platz, um seine Sicht der Dinge zu untermalen.

Der Tod der Europadebatte

Auf einmal verebbte die Debatte; völlig unerwartet tauchten die Nationalratswahlen am Horizont auf. Die Europadebatte verstummte nicht, weil die Parteien Angst vor einer Positionierung im Diskurs hatten, sondern weil sie Angst davor hatten, Verantwortung für die tatsächlich umgesetzte Aussenpolitik zu übernehmen. Denn in der Tat erwuchs gleichzeitig Handlungsbedarf aus dem Ausland: José-Manuel Barroso, die Exzellenz aus Brüssel, verlas den freiheitsliebenden Schweizern die unangenehme Order, dass sie sich von nun an über die institutionellen Fragen zu beugen hatten.

Die politische Schweiz und ihre Medien nickten und lächelten und verschoben diese seltsame Angelegenheit namens institutionelle Fragen auf später. Nach den Wahlen wäre das Thema Europa wieder spannend geworden, hatte man sich doch bereits wieder auf die gewohnten Gesichter und die geübten Schreiberlinge gefreut. Stattdessen musste zur Kenntnis genommen werden, dass Brüssel die institutionellen Fragen, die für den Wahlfrieden leichthändig zur Seite gelegt wurde, weiterhin als relevant betrachtet.

Die institutionellen Fragen zerstörten die Europadebatte. Sie treiben selbst dem hartgesottensten Medienschaffenden den Schweiss ins Gesicht. Denn schlimmer noch, als dass sie in kryptischer technokratischer Sprache gestellt wurden, wiegt die Tatsache, dass sich in erster Linie Juraprofessoren bemüssigt fühlen, sie zu beantworten. Was der Presse übrigblieb, war, den Schlagabtausch zu protokollieren, ohne wirklich zu verstehen, worum es ging. In dieser Zwickmühle verwelkten selbst kräftigste journalistische Stilblüten.

So manchem Journalisten ist die Lust daran vergangen, den gesamten Firlefanz um Homogenität im Binnenmarkt, um das Zweisäulenmodell, um die supranationale Überwachung rauf und runter zu beten. Selbst den meisten Kommentatoren und Experten fehlen heute die Freude oder die Kompetenz, noch etwas zur Diskussion beizusteuern.

Über Europa muss wieder diskutiert werden!

Zwei Dinge daran sind ernüchternd: Erstens, dass die institutionellen Fragen eigentlich wichtig wären. Wenn wir sie lösen, werden wir ein Modell haben, das über Jahre oder Jahrzehnte unser Verhältnis zur EU bestimmen wird. Wenn wir sie nicht rasch lösen, werden wir in grandiose Schwierigkeiten mit unserem wichtigsten Handelspartner geraten.

Zweitens, dass die Zerstörung der Europadebatte durch die Politik wenn nicht gewollt, so zumindest unabsichtlich gefördert wird. Sich innenpolitisch hinter verklausulierten Formeln zu verstecken hilft, in Ruhe mit der EU zu verhandeln. Aber ob dieses Vorgehen dazu beitragen kann, anschliessend die Mehrheiten für ein Abkommen mit der EU zu gewinnen, ist mehr als zweifelhaft.

Was ist also zu tun? Die Medien müssen sich durch die institutionelle Brühe kämpfen. Dabei dürfen sie getrost einige juristische Details weglassen. Sie müssen Experten zu Worte kommen lassen, auch wenn die nicht sonderlich medientauglich sind. Sie sollten das Thema verknüpfen mit anderen Inhalten – meinetwegen mit den Baden-Württembergischen Taxis am Zürcher Flughafen. Sie dürfen emotionalisieren. Sie dürfen auch mal Fehler machen. Aber sie dürfen die Debatte nicht vernachlässigen, dafür ist sie zu wichtig. Hierzulande muss wieder über unser Verhältnis zu Europa diskutiert werden!

Maximilian Stern ist ehemaliger Geschäftsführer von foraus – Forum Aussenpolitik und lebt in Zürich. Er hat an den Universitäten Zürich und München Politikwissenschaft, Volkswirtschaft und Europarecht studiert.

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