Von Angesicht zu Angesicht: Ist eine Abstimmung zum Burkaverbot wirklich nötig?

Völkerrecht

von Serap Akgül-Demirbas – Die Schweiz ist nicht mit einem reellen Verhüllungsproblem konfrontiert. Deshalb ist es völlig sinnlos und ressourcenverschwenderisch, das Verhüllungsverbot in der Schweizerischen politischen Agenda zu platzieren. Was tun, wenn nun, wie im Tessin, doch darüber abgestimmt wird?

Wieder einmal ist eine populistische Volksinitiative in der Schweiz zustande gekommen. Diesmal wird das Burkaverbot im Kanton Tessin zum Abstimmungsthema („Für ein Verhüllungsverbot des Gesichts an öffentlich zugänglichen Orten“). Um dem Diskriminierungsvorwurf rechtlich zu entkommen, wurde der Initiativtext nach französischem Vorbild als allgemeines Verhüllungsverbot formuliert. Das Verbot soll auch für Hooligans und politische Chaoten gelten. Jedem ist klar, dass es hier weder um Sicherheitsanliegen noch um die handvoll arabischen Touristinnen, welche am Lago Maggiore flanieren, geht. Es werden Scheinargumente aufgebracht, um eigennützige Symbolpolitik zu betreiben. Populistische Initiativen dieser Art, welche das Fremde verteufeln (insbesondere das Nichtchristliche und Nichtwestliche) sind verantwortungslos, weil sie nur Antipathien schüren und Integrationsbemühungen erschweren.

Das Burkaverbot aus Sicht des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR)

Art. 9 Abs. 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) besagt unter anderem, dass jeder „die Freiheit [hat], seine Religion oder Weltanschauung einzeln oder gemeinsam mit anderen öffentlich oder privat durch Gottesdienst, Unterricht oder [durch das] praktizieren von Bräuchen und Riten zu bekennen.“ Diese Freiheit ist jedoch nicht absolut. Sie kann unter gewissen Umständen eingeschränkt werden, wie im zweiten Absatz des gleichen Artikels erläutert wird: „Die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung zu bekennen, darf nur Einschränkungen unterworfen werden, die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind für die öffentliche Sicherheit, zum Schutz der öffentlichen Ordnung, Gesundheit oder Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer.“

Der Gerichtshof anerkennt in solchen Fällen einen grossen Ermessensspielraum der Vertragsstaaten, was die Verhältnismassigkeit des Eingriffes und die Rechtfertigung des verfolgten Zieles betrifft.

Im Fall Leyla Sahin vs. Turkey von 2005 zum Beispiel hatte das Gericht der Klägerin aus diesem Grund nicht recht gegeben. Frau Sahin wurde vom türkischen Staat verboten mit dem Kopftuch (nicht einer Burka) die staatliche Universität (nicht grundsätzlich öffentliche Orte) zu besuchen. Dieser Eingriff wurde als gerechtfertigt angesehen.  Interessant ist, dass seit 2003 die gesamte türkische politische Elite aus Männern mit kopftuchtragenden Ehefrauen besteht. Hayrunisa Gül, die Ehefrau des Präsidenten, hatte sogar selbst eine EGMR-Klage aus dem gleichen Grund wie Leyla Sahin eingereicht, welche sie aber zurück zog, als ihr Mann die Funktion des Staatspräsidenten übernahm.

Ein Burkaverbot aus Schweizer Sicht

Aus Schweizer Sicht ist zu bezweifeln, dass ein Burkaverbot eine „zulässige, im öffentlichen Interesse gerechtfertigte und verhältnismässige Einschränkung der Glaubens- und Gewissensfreiheit“ im Sinne der Bundesverfassung wäre. Dies war auch die Antwort des Bundesrates von 2007 auf die Interpellation von Christophe Darbelley betreffend ein Verbot des Tragens von Burkas im öffentlichen Raum.

Warum darf die Türkei also das Kopftuch verbieten, die Schweiz aber die Burka nicht? Weil der Landeskontext für die Rechtsprechung des Gerichtshofes eine wesentliche Rolle spielt:

Laizismus ist in der türkischen Verfassung verankert. Das Tragen von jeder Art von religiösen Zeichen war bis vor kurzem in staatlichen Institutionen grundsätzlich verboten. Seit der Gründung der Türkei wurde der Islam als potentielle Gefahr für den modernen Nationalstaat und auch die Wahrung der Menschenrechte angesehen. Aus türkischer Perspektive war Laizismus essentiell für die Demokratie und die Gleichstellung von allen Bürgerinnen und Bürgern. Die türkische Interpretation des laizistischen Nationalstaates wurde vom Gerichtshof als gerechtfertigt angesehen. Absatz 116 des Urteils liest sich wie folgt:  “Having regard to the above background, it is the principle of secularism, as elucidated by the Constitutional Court [= das türkische Verfassungsgericht](see paragraph 39 above), which is the paramount consideration underlying the ban on the wearing of religious symbols in universities. In such a context, where the values of pluralism, respect for the rights of others and, in particular, equality before the law of men and women are being taught and applied in practice, it is understandable that the relevant authorities should wish to preserve the secular nature of the institution concerned and so consider it contrary to such values to allow religious attire, including, as in the present case, the Islamic headscarf, to be worn.”

Im Falle der meisten Schweizer Kantone wäre das wohl kaum der Fall. In der Schweiz gibt es nämlich, bis auf wenige Kantone, keine vollständige Trennung zwischen Religion und Staat. Die Schweizerische Bundesverfassung beginnt mit dem Satz „im Namen Gottes des Allmächtigen“. Diese Angelegenheit ist zudem Sache der Kantone, deshalb wäre es auch kaum möglich ein landesweites Verbot zu etablieren. Insbesondere angesichts der Tatsache, dass die Schweiz keine koloniale Vergangenheit hat, nicht sehr viele Frauen mit Burkas zu sehen sind, und das Burkatragen auch keine akute Gefahr für die anderen darstellt, wird es schwierig sein, die Verhältnismässigkeit eines solchen Eingriffes zu begründen. Zudem ist die Frage, warum eine christliche Kleidung getragen werden darf, eine Burka jedoch nicht, unbeantwortet.

Die Burka als Banner einer Ideologie

Mir persönlich scheint dieser kulturrelativistische Umgang mit der Burkafrage inakzeptabel.  Fakt ist, dass die meisten Burkaträgerinnen dieser Welt – auch wenn das nicht für die Schweizerinnen unter ihnen zutrifft – Opfer von Zwang und Unterdrückung sind. Fakt ist auch, dass es eine allgemein gültige Interpretation gibt, was es bedeutet, eine Burka zu tragen: Es handelt sich um eine menschenunwürdige Sexualisierung der Frau. Die Burka ist der Banner jener Weltanschauung, in welcher die Frau in der Öffentlichkeit nicht das Recht hat, ein Mensch zu sein. Es sind nicht Verhüllungsverbote, sondern diese sexistische Ideologie, welche die Frau in ihren vier Wänden einsperrt.

Weiter ist aus meiner Sicht die Anforderung, eine Burka tragen zu dürfen missbräuchlich, weil Menschenrechtsargumente, wie die Religionsfreiheit,  zweckentfremdet werden. Sie werden eingesetzt um menschenunwürdige Ziele zu verfolgen.

Wenn gefragt, gibt es für die Tessiner/innen also zwei Optionen: Gegen ein Burkaverbot zu stimmen, um populistische Initiativen nicht zu unterstützen und weil ein solches Verbot vermutlich EGMR-untauglich wäre; oder einem Burkaverbot aus Überzeugung zustimmen, weil islamistische Praktiken dieser Art – wie auch Zwangsheirat, Beschneidung oder Suspendierung vom Schwimmunterricht – ein absolutes Verbot geniessen sollten. Welch eine Wahl!

Serap Akgül-Demirbas ist Absolventin des Genfer Hochschulinstitutes für internationale Studien. Sie engagiert sich in der foraus-AG Menschenrechte und humanitäre Politik.

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