Zu dünnes Eis? Die Anerkennung von Rebellen-Regierungen vor dem Ende des Konfliktes ist völkerrechtlich heikel

Völkerrecht

Von Valerio Priuli– Ein Staat und zwei Regierungen: Soll die Schweiz den Übergangsrat Libyens als offiziellen Vertreter des Landes anerkennen?

Die Ausgangslage
Der aus der oppositionellen Bewegung hervorgegangene libysche Übergangsrat nimmt mehr und mehr Züge einer Übergangsregierung an. Er ist in Benghasi angesiedelt und übt seine effektive Kontrolle über den Ostteil des Landes aus. Frankreich hat den Übergangsrat am 10. März 2011 als einzige legitime Vertretung des libyschen Volkes anerkannt. Katar und Italien haben mittlerweile die gleiche Anerkennung ausgesprochen. Die anderen Staaten sind diesen Beispielen bisher nicht gefolgt.

Es stellen sich daher folgende Fragen: Weshalb haben einzelne Staaten diese Anerkennung explizit ausgesprochen, welche Rechtsfolgen sind daran geknüpft und wie werden sich andere Staaten künftig verhalten?
Im Völkerrecht werden grundsätzlich drei Arten der Anerkennung unterschieden:

– die Anerkennung von Staaten,
– die Anerkennung von Kriegsführenden und
– die Anerkennung von Regierungen.

Die Anerkennung eines Staates hat zur Folge, dass eine gewisse Gemeinschaft auf einem gewissen Gebiet als Staat im völkerrechtlichen Sinne und damit als Völkerrechtssubjekt anerkannt wird. Damit wird der Staat zum Träger von völkerrechtlichen Rechten und Pflichten. Mit der Anerkennung als kriegsführende Partei erhalten Aufständische eine partielle Völkerrechtssubjektivität. Damit wird insbesondere deren Bindung an das humanitäre Völkerrecht bezweckt (also an diejenigen völkerrechtlichen Normen, die im Falle einer kriegerischen Auseinandersetzung insbesondere zum Schutz der Zivilbevölkerung, der Verwundeten, der Kriegsgefangen und der Umwelt Anwendung finden). Mit der Anerkennung einer Regierung will der anerkennende Staat zum Ausdruck bringen, dass die anerkannte Regierung als offizielle Vertretung des anderen Staates angesehen wird. Frankreich, Katar und Italien haben die Übergangsregierung offiziell als einzige legitime Vertretung des libyschen Volkes anerkannt. Damit haben sie zum Ausdruck gebracht, dass die Übergangsregierung die einzige Regierung Libyens ist, die sie akzeptieren.

Die Anerkennung nach dem Effektivitätsgrundsatz
Bei innerstaatlichen Revolutionen und Regierungswechseln geht das Völkerrecht grundsätzlich von der Kontinuität des Staates aus. Die Anerkennung des Übergangsrates als offizielle Vertretung des Landes ändert somit nichts an der Völkerrechtssubjektivität Libyens.
In unklaren Situationen, in welchen mehrere Akteure in einem Staat die Regierungsgewalt für sich beanspruchen, kann ein anderer Staat durch die Anerkennung des einen Machtblocks als Regierung politisch Stellung beziehen. Die Staatenpraxis folgt in der Regel dem Grundsatz der Effektivität; das heisst, dass eine Regierung anerkannt wird, sobald sie den Grossteil des Landes und der Verwaltung kontrolliert. Erfolgt die Anerkennung vor diesem Zeitpunkt, so handelt es sich um eine vorzeitige Anerkennung. Diese kann (analog zur vorzeitigen Anerkennung eines neuen Staates infolge Sezession) als Intervention in die inneren Angelegenheiten des anderen Staates und somit als völkerrechtliches Delikt angesehen werden.
Der Akt der Anerkennung nach dem Effektivitätsgrundsatz sagt nichts über die Legitimität und Legalität der Regierung aus. Die sogenannte Tobar-Doktrin von 1907, die eine Anerkennung erst nach der Durchführung von demokratischen Wahlen für zulässig hielt, hat sich nicht durchgesetzt. Es gibt auch Staaten, die – der sogenannten Estrada-Doktrin folgend – vollkommen auf die explizite Anerkennung einer Regierung verzichten. Dies mit der Begründung, dass die Frage der Regierung eines Staates eine rein innerstaatliche Angelegenheit sei und der Akt der Anerkennung eine völkerrechtswidrige Einmischung darstelle. Auch die Schweiz, die Regierungen grundsätzlich nach dem Prinzip der Effektivität beurteilt, pflegt seit dem zweiten Weltkrieg die Praxis, dass sie zwar Staaten, nicht aber Regierungen explizit anerkennt.

Die Responsibility to Protect
Weshalb haben Frankreich, Katar und Italien also die Übergangsregierung Libyens anerkannt? Aus politischer Sicht bekunden sie damit ihre Solidarität und Unterstützung für die Revolutionsbestrebungen in Libyen. Aus völkerrechtlicher Sicht handelt es sich hingegen um eine vorzeitige Anerkennung. Dieser Eingriff liesse sich rechtfertigen, wenn man davon ausginge, dass nicht nur die Effektivität, sondern auch die Legitimität und Legalität der Regierung eine Rolle spielen sollte. Die Resolutionen 1970 und 1973 des UNO-Sicherheitsrates sprechen explizit die Responsibility to Protect an (siehe hierzu den Blog-Beitrag von Alexander Spring). Diese besagt, dass sich aus der Souveränität des Staates auch die positive Pflicht der Behörden zum Schutz der Bevölkerung vor schweren Menschenrechtsverletzungen ableitet. Die Souveränität eines Staates definiert sich somit nicht mehr als negatives Abwehrrecht gegen Eingriffe in innere Angelegenheiten sondern als positive Schutzpflicht der Behörden gegenüber der Bevölkerung. Wenn der Staat dieser Schutzpflicht nicht nachkommt oder selber für schwere Menschenrechtsverletzungen verantwortlich ist, fällt diese Schutzpflicht auf die internationale Gemeinschaft zurück. Diese kann dann im Einklang mit dem Völkerrecht und im Rahmen der UNO-Charta Massnahmen ergreifen.

Einführung einer neuen Praxis?
Dass die Regierung Ghadhafi durch ihr äusserst brutales Vorgehen gegen die friedlichen Demonstranten und durch ihre kriegerischen Handlungen, die sich auch gegen die Zivilbevölkerung richteten und richten, schwere Menschenrechtsverletzungen begangen hat und weiterhin begeht, ist unbestritten (die Aufnahme von Ermittlungen durch den Internationalen Strafgerichtshof und der Ausschluss aus dem UNO-Menschenrechtsrat bestätigen dies).
Nach einem positiven Souveränitätsverständnis kann sich die Regierung Ghadhafi gegenüber der internationalen Gemeinschaft nicht mehr auf die Souveränität im Sinne eines Abwehrrechtes berufen. Die aus Sicht des Effektivitätsgrundsatzes vorzeitig erfolgte Anerkennung der Übergangsregierung wäre aus dieser Perspektive kein völkerrechtswidriger Eingriff in die inneren Angelegenheiten Libyens. Es wäre die Feststellung, dass die Regierung Ghadhafi durch ihre Handlungen das Recht verloren hat, die Bevölkerung des Landes zu kontrollieren und gegen aussen zu vertreten. Dies würde bedeuten, dass bei der Frage der Anerkennung von Regierungen nicht mehr nur deren Effektivität, sondern auch deren Legalität und Legitimität eine Rolle spielen würden.
Damit erscheinen die von Frankreich, Katar und Italien explizit ausgesprochenen Anerkennungen als Versuch, eine neue Praxis zu etablieren. Dieser Versuch ist aus drei Gründen problematisch: Erstens ist die Responsibility to Protect ein sehr junges völkerrechtliches Institut, das noch umstritten ist, weil es ein neues Souveränitätsverständnis verlangt. Zweitens kann eine zu grosszügige Interpretation dieses Instituts zu heiklen interventionistischen Massnahmen führen. Und drittens ist auch aus der oben geschilderten Argumentation nicht ersichtlich, woraus die Übergangsregierung ihre Legitimität ableitet.
Die Tatsache, dass bis jetzt kein Staat dem Beispiel Frankreichs, Katars und Italiens gefolgt ist, zeigt, dass die grosse Mehrheit der Staaten immer noch dem Grundsatz der Effektivität folgt. Die meisten Staaten werden vermutlich mit der expliziten Anerkennung noch zuwarten oder sie werden sie gar nie aussprechen. Die Übergansregierung wird erst im Falle des Obsiegens der Oppositionellen gegen das Regime Ghadhafis von den anderen Staaten (vielleicht mit Ausnahme Venezuelas und Simbabwes) als neue offizielle Vertretung Libyens anerkannt werden.

Die Möglichkeiten der Schweiz
Die Schweiz hat bisher keine explizite Anerkennung ausgesprochen. Damit hält sie sich an ihre bisherige Praxis. Es ist davon auszugehen, dass sie sich auch in Zukunft daran halten wird. Falls die Übergangsregierung die Kontrolle über einen Grossteil des Landes und der Verwaltung erlangen sollte, dürfte die Schweiz im Einklang mit dem Prinzip der Effektivität offizielle Beziehungen zu ihr aufbauen, ohne eine Anerkennung explizit auszusprechen. Aufgrund der beschränkten Wirkung der Anerkennung der Übergangsregierung zum jetzigen Zeitpunkt und ihres Widerspruchs zum Effektivitätsgrundsatz macht es auch Sinn, wenn die Schweiz an ihrer bisherigen Praxis festhält. Momentan haben der Schutz der Zivilbevölkerung (in den umkämpften Gebieten und auf der Flucht) und die Überwindung des Ghadhafi-Regimes Priorität. Das Völkerrecht stellt genügend Mittel zur Verfügung, um diese Ziele zu verfolgen.
Die Schweiz muss – soweit mit ihrer aktiven Neutralitätspolitik vereinbar – diese Bemühungen mit vollen Kräften unterstützen. Die Anerkennung der Übergangsregierung als offizielle Vertreterin ist weder die dringendste, noch die beste Massnahme, die sie ergreifen kann, um die Zivilbevölkerung zu schützen und zum Sturz des Regimes beizutragen. Sie sollte sich daher nicht auf völkerrechtlich zu dünnes Eis begeben und mit der (ohnehin stillschweigenden) Anerkennung zuwarten, bis die Übergangsregierung das Land und die Verwaltung effektiv kontrollieren kann.

Valerio Priuli hat in Zürich Jus studiert und arbeitet am Rechtswissenschaftlichen Institut als Wissenschaftlicher Mitarbeiter. Er gehört der Arbeitsgruppe Völkerrecht des foraus an.

Der foraus-Blog ist ein Forum, das sowohl den foraus-Mitgliedern als auch Gastautoren/innen zur Verfügung gestellt wird. Die hier veröffentlichten Beiträge sind persönliche Stellungsnahmen der Autoren/innen. Sie entsprechen nicht zwingend der Meinung der Redaktion oder des Vereins foraus.