Personenfreizügigkeit in der Krise?

Im Zuge der sogenannten «Flüchtlingskrise», des erstarkten Rechtspopulismus und zuletzt der Corona-Krise ist der Abgesang auf die Personenfreizügigkeit und das offene Europa immer lauter geworden. Steckt damit das Recht auf freien Personenverkehr in Europa in einer fundamentalen Krise? Die Einstellungsforschung widerspricht diesem Narrativ und weist eine stabile Unterstützung in der Bevölkerung nach. Dieses Paradox verlangt nach Erklärungen, die ich in diesem Blogbeitrag aufzuzeigen versuche.

 

Vor über zwanzig Jahren einigte sich die Schweiz mit der Europäischen Union auf die Einführung der Personenfreizügigkeit. Damit erhielten Schweizer*innen das Recht, frei zu wählen, wo in Europa sie leben, arbeiten und studieren wollen. Verschiedene Entwicklungen haben dem Narrativ Vorschub geleistet, dass die öffentliche Unterstützung für die Personenfreizügigkeit seither zurückgegangen sei. Im Februar 2014 sprach sich etwa eine knappe Mehrheit der Schweizer*innen für die Masseneinwanderungsinitiative aus, welche die Wiedereinführung von Einwanderungskontingenten und eine positive Diskriminierung von inländischen Arbeitskräften gegenüber aus der EU zugewanderten verlangte. Dann spitzte sich im Jahr 2015 die sogenannte Flüchtlingskrise zu und gipfelte in der temporären Wiedereinführung von Grenzkontrollen innerhalb des Schengenraumes. Im Nachgang gewannen rechtspopulistische Parteien vermehrt an Zuspruch in nationalen Wahlen und versprachen mehr nationale Souveränität und weniger Migration. Schliesslich erfasste die Corona-Pandemie auch den europäischen Kontinent. Die Personenfreizügigkeit wurde vorübergehend ausser Kraft gesetzt und die Rufe nach nationalen Grenzschliessungen wurden noch lauter.

 

Wie steht es tatsächlich um die Unterstützung der Personenfreizügigkeit in Europa und der Schweiz?

Die politikwissenschaftliche Einstellungsforschung liefert zu dieser Frage interessante Einsichten. Die umfangreichste Datengrundlage zu den Einstellungen gegenüber der Personenfreizügigkeit liefern die Eurobarometer-Zeitreihen. Die Daten aus dem Jahr 2019 zeigen, dass in allen EU-Staaten die Personenfreizügigkeit mehrheitlich unterstützt wird – im Durchschnitt von 80 Prozent der Bevölkerung; Italien und Grossbritannien weisen mit 68 Prozent die geringste Unterstützungsrate auf, Litauen ist mit 94 Prozent Spitzenreiter. In der letzten Umfrage von Februar/März 2020 waren gar 84 Prozent der befragten Europäer*innen der Meinung, dass die Personenfreizügigkeit ihrem Land insgesamt wirtschaftliche Vorteile bringt. 

Der vielleicht grösste Test für die Unterstützung in der Bevölkerung war die sogenannte Flüchtlingskrise von 2015, bei der die Einwanderung zum dominierenden Thema wurde und der Druck zu restriktiven migrationspolitischen Massnahmen weiter zunahm.

Grafik 1: Unterstützung für die Personenfreizügigkeit durch EU-Bürger*innen

Diese Grafik zeigt die prozentuale Verteilung der Antworten auf die Frage: «Sind Sie für oder gegen die Personenfreizügigkeit?»

Quelle: Eurobarometer Survey, 2018

In der obenstehenden Grafik ist ersichtlich, wie sich die Unterstützung für die Personenfreizügigkeit im Nachgang zu dieser Krise entwickelt hat. Der Zuspruch ist seit 2015 mit leicht steigender Tendenz praktisch unverändert geblieben. Die wohl bislang grösste Herausforderung für das offene Europa hat somit nicht dazu geführt, dass die Bürger*innen der EU der Personenfreizügigkeit ihre Unterstützung entzogen haben. 

 

Ein vergleichbares Bild lässt sich für die Schweiz zeichnen. Seit der Annahme der Masseneinwanderungsinitiative hat die Unterstützung für die Personenfreizügigkeit eher zu- als abgenommen. Wenn Schweizer*innen sich im Jahr 2017 zwischen der Beendigung der Personenfreizügigkeit und dem Erhalt der Bilateralen Verträge respektive der Stärkung der flankierenden Massnahmen auf dem Arbeitsmarkt entscheiden müssten, wären zwei Drittel für den Erhalt der Bilateralen und vier Fünftel für flankierenden Massnahmen anstatt für eine Kündigung der Personenfreizügigkeit gewesen (siehe Grafik 2). Dieser Befund illustriert, dass trotz lauter Kritik an der Personenfreizügigkeit die Kündigung des Freizügigkeitsabkommens eine vergleichsweise unpopuläre Option darstellt.

Grafik 2: Unterstützung für die Personenfreizügigkeit durch Schweizer Bürger*innen

Die linke Hälfte der Grafik weist die prozentuale Verteilung der Antworten aus auf die Frage: «Die Schweiz wird sich möglicherweise entscheiden müssen, ob sie die bilateralen Verhandlungen mit der EU weiterführen will oder ob sie die Zuwanderung beschränken will. Was ist Ihre heutige Meinung dazu? Sind Sie eher für die bilateralen Verträge oder eher für eine Beschränkung der Zuwanderung?» Die rechte Hälfte bildet ab, wie Schweizer*innen auf folgende Frage geantwortet haben: «Wünschen Sie sich eine Schweiz, die die Personenfreizügigkeit beendet / eine Schweiz, die die Personenfreizügigkeit beibehält, aber flankierende Massnahmen zum Schutz der Arbeitnehmer ergreift?»

Quelle: MOSAiCH-Umfrage, 2017

Krisenfeste Unterstützung für europäische Mobilitätsrechte trotz scheinbarer Legitimitätskrise 

Wie lässt sich dieser Gegensatz zwischen dem dominanten Narrativ einer Legitimationskrise und der anhaltend hohen Unterstützung in der Bevölkerung erklären? Folgende drei Gründe können helfen, dieses Paradox zu verstehen:

 

1) Themen-Salienz: Das politische Geschehen beeinflusst, welche Themen Konjunktur haben und die politischen Debatten vordringlich prägen. Da das Migrationsthema in den letzten Jahren im Vordergrund gestanden ist, wurden vermehrt Bürger*innen politisch mobilisiert, die Migration für ein wichtiges Thema oder ein Problem halten. Zudem lassen sich unter solchen Umständen Wählerinnen und Wähler bei ihrer Wahlentscheidung stärker von ihren migrationspolitischen Einstellungen leiten. Migrationskritische Parteien haben dadurch Zulauf erhalten, ohne dass sich die Einstellungen in der Bevölkerung wesentlich verändert hätten.

 

2) Polarisierung: Beim Migrationsthema treffen oft gegensätzliche Weltsichten aufeinander; traditional-konservative, welche die nationale Souveränität hochhalten und kosmopolitische, welche kulturelle Vielfalt und internationale Mobilität als Bereicherung betrachten. Dieser Gegensatz prägt und polarisiert zunehmend die politische Auseinandersetzung. Die intensive politische Debatte über die Personenfreizügigkeit ist daher eher im Kontext der Polarisierung dieser gegensätzlichen Ansichten zu verstehen, und nicht als Ausdruck einer zunehmenden Migrationsskepsis in der Bevölkerung. 

 

3) Ambivalenz: Das Prinzip der Personenfreizügigkeit fusst auf gegenseitigen Mobilitätsrechten. Sie erlaubt nicht nur die Einwanderung von Personen aus der EU, sondern stellt auch ein Freiheitsrecht für Schweizer*innen selbst dar. Diese Reziprozität führt zu einer Ambivalenz in der öffentlichen Meinung: Bürger*innen verbinden gleichzeitig positive und negative Einstellungen mit der Personenfreizügigkeit. Während Sorgen um unerwünschte Einwanderung mit einer geringeren Unterstützung einher gehen, erwächst Unterstützung für die Personenfreizügigkeit aus der Einschätzung, dass die eigenen Mobilitätsrechte eine wertvolle Errungenschaft darstellen (Lutz 2020). In der Konsequenz sind positive Assoziationen mit der Personenfreizügigkeit verbreiteter als die medial stärker präsente Kritik vermuten liesse.

 

Noch wissen wir nicht, welche Folgen die Corona-Krise auf die Unterstützung für die Personenfreizügigkeit haben wird und auch der Ausgang der Abstimmung über die Kündigung des Freizügigkeitsabkommens bleibt offen. Die Forschung hat jedoch gezeigt, dass die Unterstützung für die europäischen Mobilitätsrechte bisher erstaunlich krisenfest gewesen ist.

 

Der Blog wurde ursprünglich auf der Website von nccr – on the move veröffentlicht.

Foto: Unsplash.